Donnerstag, 2. September 2010

12 Tage Santiago [6]

Endlich konnte man die Cordillera sehen! Berge, riesige, ausgewachsene Berge direkt hinter den Häusern, und was ist? Ich stehe im 4. Stock der Fakultät und meine Kamera behauptet, keine Akkuleistung mehr zu haben. Das kann mir sie zwar noch den ganzen Tag mitteilen, aber auslösen kann sie nicht mehr. Nachmittags, als die Kamera aufgeladen ist, sind die Anden allerdings wieder hinter der üblichen Suppe aus Nebel, Wolken und Smog verschwunden, und dann fängt es auch noch an zu regnen. Eine maue Erlebnis- und Foto-Ausbeute heute.

Zum Kongress bin ich zu spät gekommen, weil die U-Bahn immer wieder im Stau stand, wir haben mehr in Tunnels gestanden als dass wir gefahren wären. Die Sektion, zu der ich morgens wollte, war dann aber offenbar sowieso ausgefallen oder nach unbekannt verlegt worden, der Raum war jedenfalls verwaist und keiner der Helfer wusste etwas. Dann wurde es besser. Bisher habe ich noch keinen Vortrag gehört, der duch Präsentationen irgendeiner Art (Folien, PowerPoint, Ausdruckstanz) oder Handouts unterstützt worden wäre. Ich habe für morgen PowerPoint und Handouts, wahrscheinlich denken sie, ich will einen Lückentext in Deutsch als Fremdsprache mit ihnen machen, wenn ich die Zettel austeile. Hoffentlich ist überhaupt noch jemand da, wenn ich vortrage, heute habe ich schon von vielen gehört, die morgen früh abreisen, und ich bin in der allerletzten Sektion "Wissenschaft", dann gehört das Feld bis zum Abend wieder den Dichtern.

Das Land bereitet sich auf die Fiestas Patrias und das Bicentenario vor. Am 18.9. ist Nationalfeiertag (Doppelfeiertag mit dem 19.), und dieses Jahr wird die Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit groß inszeniert. "Ah, Du fährst schon vor dem 18.", das ist die übliche Reaktion auf mein Abreisedatum, das chilenische Jahr scheint sich in vor- und nach dem 18. September zu teilen. Weil die Feiertage dieses Jahr auf Samstag und Sonntag fallen, werden sie verlegt - das Datum des Nationalfeiertags ist zwar unverrückbar im kollektiven Gedächtnis verankert, und der 18. ist nunmal der Samstag, weil es aber unfair ist, wenn ein freier Tag auf ein Wochenende fällt, wurde beschlossen und gesetzlich festgelegt, dass dieses Jahr auch der Freitag davor und der Montag danach Feiertage zu sein haben. Flexible Ersatz- und Kompensationsfeiertage, der zu Ende gedache Brückentag. Nun, keine zwei Wochen vor den Feiertagen, ist das Land jeden Tag in Blau-Weiß-Rot gehüllt. Die Landesfarben scheinen mir sowieso und immer präsent zu sein, auch die Nationalhymne wird zu Gelegenheiten gesungen, wenn meines Erachtens Deutsche nie auf die Idee kämen, ausgerechnet die Hymne zu singen (zum Beispiel haben die verschütteten Minenarbeiter die Nationalhymne in die zu ihnen heruntergelassenen Mikrophone gesungen, und ihre Familien oberirdisch haben dann auch das rituelle "Chi Chi Chi Le Le Le" intoniert). Aber jetzt schwappen die Landesfarben wirklich überall hin, alles ist voller blau-weiß-roter Girlanden, Windmühlen, Lufballons, Fähnchen, dazu andere landestypische Symbole wie die Strohhüte der Huasos (der chilenische Gegenpart zum argentinischen Gaucho). Ob die Sägespäne, die heute überall in Galerien und Eingängen von Läden gestreut waren, auch folkloristisch an das die nationale Identität prägende Landleben oder die Zeit der Nationengründung erinnern sollen, oder ob es eine unbemerkte Ölpest gab oder ein größerer Kälteeinbruch mit Blitzeis erwartet wird, vermag ich nicht zu sagen.
Das Fahnenmeer erinnert mich auch an die Pueblos Jovenes (Slums) in Peru. In Peru wie auch in Chile ist es zu nationalen Feiertagen Pflicht ist, eine Fahne zu hissen; wer nicht flaggt, muss Strafe zahlen, zumindest in Peru recht rigide. Da die meisten Menschen in den Pueblos Jovenes nicht sicher wussten, wann Feiertag war und wann sie also zu flaggen hatten, behielten sie, um Strafen zu entgehen, einfach die Fahne permanent auf dem improvisierten Dach, soweit vorhanden. So waren die prekärsten Wohngegegenden, wo diejenigen lebten, denen der Staat am wenigsten gab, paradoxer- und irritierenderweise diejenigen, die (bedingt freiwillig) am deutlichsten und dauerhaftesten Flagge zeigten.
El país se viste de fiesta, und manchmal schaut das aus wie bei Christo abgeschaut, manchmal eher nach Kindergeburtstag.


Und wenn ich sage, dass alles in Blau-Weiß-Rot getaucht ist, dann meine ich alles.
Die Qualität der Fotos bitte ich zu entschuldigen, besonders das folgende hat eine rein dokumentarische Funktion:


2 Kommentare:

  1. Die erkältungsbedingte Wattigkeit im Kopf lässt leider nicht genug Worte durch, um vernünftig zu beschreiben, wie viele Fenster dieser Post zum 6. Tag für mich aufgestossen hat. Quite interesting. Toll. Danke.

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  2. Die Sägespäne liegen im Eingangsbereich der Geschäfte, wenn es draußen regnet, damit so die Feuchtigkeit aufgesogen werden kann und die Käufer im Innenbereich der Geschäfte nicht stürzen!

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