Montag, 30. August 2010

12 Tage Santiago [3]

Kalte Winterluft am Morgen, aber sonnig. Ich frühstücke Hostal-Kaffee - Nescafé schwarz, denn in Instantkaffee (was ist nur los mit den Kaffeeländern, dass sie so auf Instantkaffee stehen?) auch noch Instantmilchpulver zu krümeln scheint mir die Lage nicht zu verbessern. Erst danach öffne ich vordfreudig und fast rituell meine Mails, das ist das Gute an der Zeitverschiebung, die Gewissheit, morgens etwas vorzufinden. Und ich finde, nämlich Berichte vom Kind - das beherrscht nun, wie ich erfahre, zwei neue Wörter sicher: "Bagger" und das Familienwort für "Penis"; Männlichkeitswahn daheim? - und wie jeden Morgen ein für mich geschriebenes und sehr anrührendes Tagebuch. Darin enthalten mein täglicher Ohrwurm, heute habe ich also dem chilenischen Winter angemessen italienische Songs geträllert, bis auf dem Kunsthandwerksmarkt ein albern hüpfender Huayno aus dem Andenhochland dazwischenkam. Außerdem versorgt mich der Liebste am Wochenende mit Nachrichten zu den Spielständen. (Das 3:6 war ein gezieltes Verklappsen der Tippspielrunden, oder?!)

[Foto: Perro chilensis]
Mittags war ich bei Señora Eliana eingeladen, sie ist genauso winzig wie damals und etwas grauer ("aber bald färb ich mich wieder!"), auch die Pension ist unverändert, einer der kleinen Hunde ist tot, aber jedes der von den Gästen aus aller Welt mitgebrachten Andenken ist noch an seinem Platz, ebenso Don Felipe, der alte Pensionsgast, der dort nicht wohnt, aber seit 33 Jahren jede einzeln
e Mahlzeit dort einnimmt und zu Hause nicht mal einen Teelöffel hat, und der wie vor 5 Jahren am Kopfende des Esstischs sitzt und wartet. Es gibt eine Kostprobe von Sra Elianas Kochkunst, Kartoffelbrei aus der Tüte mit gekochtem Schinken, zum Nachtisch Banane mit Erdbeermarmelade, und dann bereitet sie uns einen "bajativo" zu, Fernet mit Menta, ein Eiswürfel, sorgfältig eingeschenkt und von Don Felipe erklärt, wie immer, "Fernet ist bitter und Menta ist süß, und zusammen - exquisit!", dann umgerührt ("so rührt man das um, genau so") und schließlich nimmt sie einen Teelöffel voll aus meinem Glas, "köstlich", und lacht selbst über das Theater. Die beiden erzählen vom Erdbeben und ein bisschen von den letzten fünf Jahren, über die es aber nicht so viel zu berichten gibt, nur dass auf die Wahlkampfzentrale von Michelle Bachelet gegenüber irgendwann eine Bombenattentat verübt wurde und dass das Haus nun gelb gestrichen und von Leuten von den Osterinseln bewohnt sei. Ein bisschen reden wir dann noch über das relativ neue Scheidungsrecht, Chile gehört zu den letzten Ländern, die Scheidungen legalisiert haben. Zuvor war es nur (bedingt) möglich, Ehen annullieren zu lassen. Konsequenz der über Jahrzehnte aufgestauten gescheiterten Ehen, die nun endlich auch offiziell auseinandergehen dürfen, sei in Kombination mit einer allgemeinen Heiratsmüdigkeit gewesen, dass im vergangenen Jahr mehr Ehen geschieden als geschlossen wurden. Auch ich kenne jemanden in Chile, der sich vor kurzem von seinem seit fast einem halben Jahrhundert getrennten Partner hat scheiden lassen - allerdings in diesem Fall, um dann umgehend endlich die ebenfalls seit fast einem halben Jahrhundert mit ihnen lebenden "neue" Liebe und Mutter seiner Kinder zu heiraten.




[Fotos: Kathedrale, Portal und einzelne Bodenfliese]
Anschließend bummele über den Kunsthandwerksmarkt, kaufe dem Söhnchen einen peruanischen Alpaka-Pullover mit Pinguin (der wahrscheinlich "pica") und probiere Mapuche-Ohrringe an. Diese Ohrringe wollte ich mir schon vor fünf Jahren kaufen und habe es dann aus Geiz nicht mehr gemacht, im März bin ich aus Erdbebengründen nicht dazu gekommen, und heute - heute habe ich sie wieder nicht gekauft, denn so schön der Mapuche-Schmuck ist, er scheint mir einfach nicht zu blondem Fusselhaar zu passen. Die großen Silberanhänger brauchen die wunderschönen, stolzen und unglaublich fotogenen Gesichter der Mapuche-Frauen.

[Foto: Ecke Plaza de Armas, gelb angestrahlt die Post]
Später gehe ich dann durch die Fußgängerzone und hoffe, dass die großartigen Puppenspieler, die ich früher jeden Sonntag angeschaut habe, dort sind - sind sie nicht - und gehe dann mit einem Himbeereis auf die Plaza de Armas. Himbeeren sind nicht unbedingt das erste, was man mit Chile assoziiert, da kommen doch eher die Vulkane, Wollsocken oder Fischgerichte, vielleicht auch - wenn man länger mit mir zu tun hatte - Dichter. Doch man sollte sich die hiesigen Himbeeren in allen Varianten auf keinen Fall entgehen lassen.


[Foto: Kathedrale]

In der Kathedrale gelingt mir vor der Statue des neuesten chilenischen Heiligen, Padre Hurtado, eines von drei Fotos, die ich dort heute gesehen und gern gemacht hätte, die anderen beiden wären das Mädchen gewesen, das mit einem sternförmigen Luftballon in die Krypta steigt (unscharf), und das kleine Mädchen, das sich auf das Becken mit dem Weihwasser lehnt, um an den Tropfen unter der Marmorhand zu kommen (nicht getraut).
[Übrigens ist es hier recht unproblematisch, Menschen zu fotografieren, meist frage ich einfach, und jemand wie "Elvis", der Schlagzeuger von gestern, bekommt dann auch eine Spende in seine Sammelbüchse.]Am Ende des Abends Kaffee und Lektüre im "Café de las Artes" in der Nähe des
Museo de Bellas Artes, ein schönes Café, was ich eigentlich gesucht, aber nicht gefunden hatte, und was dann doch auf meinem alternativen Heimweg lag.


3 Kommentare:

  1. Wieder lerne ich ein Land durch dich kennen - vielen Dank!

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  2. Durch Sie kann ich Länder besuchen, die für mich in jeder Hinsicht in weiter Ferne liegen - viel Dank!

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  3. Percanta, Du bist blond? Irgendwie hatte ich ein anderes Bild von Dir, brünett oder schwarzhaarig, Latino-haft eben. :)

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